Orientierungslos
Da saß ich heute, ein Buch lesend, in die Sonne blinzelnd, mit dem Nordseewind in den nicht wehenden Haaren am Strand, da hörte ich ein Geräusch, das ich nicht zuordnen konnte. Beim U-Boot hätte man wohl Schleichfahrt gesagt. Es stellte sich als Tesla Model 3, die neueste Flachbatterie vom Herrn Musk heraus. Der Fahrer hielt 2 Meter vor meinem Klappstuhl. Die Scheibe ging runter und mich schaute ein älterer Mann mit Jupp Derwall Gedächtnisfrisur an. Ältere kennen den Fußballehrer mit der legendären Fontanelle sicher noch. Ohne Gruß begann er zu erzählen. Wollte wissen, ob hier ein Fest sei, wegen der ganzen Drachen. Ich erklärte es ihm. In diesem Moment fiel mir spontan der Schatten auf dem Beifahrersitz auf. Er bewegte sich nicht und er sprach auch nicht. Meinetwegen. Der Fahrer, der laut Kennzeichen aus Braunschweig kam, sprach weiter. Dass er genau vor 40 Jahren schon mal hier war. Ich erklärte, dass ich das auch gern gewesen wäre, aber eine Mauer im Weg stand. Das irritierte ihn. Dann erklärte er mir, dass er fast 90 sei und diesen Wagen hier sehr genieße. Ich schaute um mich und suchte nach einer Erklärung, warum auf dem gut besuchten Strand gerade ich in den Genuss der ganzen Informationen kam. Er hätte 460 PS und es wäre, als würde man schweben. Dann eine Aufzählung der Ausstattungsmerkmale und dass der rote Lack 2000 EUR Aufpreis gekostet hätte. Weiß wäre ohne Aufpreis. Nachdem ich dann auch noch die Reichweite und den Allradanrieb ungefragt gepriesen bekam, fragte ich mich langsam, worauf der Herr eigentlich hinauswollte. Dann lies er die Katze aus dem Sack. Er fand den Ausgang vom Strand nicht mehr. Der kilometerbreite und –lange Strand war für den wohl optisch nicht mehr so topfitten Herrn zum Problem geworden. Ich beschrieb ihm den Weg anhand zweier großer Drachen, die nicht zu übersehen waren und musste mir das Grinsen verkneifen. Ab da müsste seine Optik wieder übernehmen können. Ob ich noch wüsste, wo man denn eine Bleibe mieten könnte, war die nächste Frage. Ich beschrieb ihm die nächstliegenden Anlaufpunkte und wünschte eine Gute Reise. Aber er fuhr einfach nicht weg. Er redete immer weiter. Über sein Auto, das Wetter der nächsten Tage, dass er noch nach Kopenhagen will, eine Übernachtung für zwei Nächte sucht usw.. Ich schielte auf den Beifahrersitz und es bewegte sich weiterhin nichts. Dann fuhr er nach mehreren guten und nachdrücklichen Wünschen für seine Reise. Später sah ich Ihn noch an der Ampel zum Einkaufscenter. Der Beifahrer war starr wie immer. Meine ganz persönliche Vermutung ist ja, dass der Mann seine längst verblichene Ehefrau auf eine letzte große Urlaubsreise genommen und diese durch die perfekte Klimatisierung in dem blöden, sauteuren Tesla defacto auf dem Beifahrersitz luftgetrocknet und damit zur stillen Beifahrerin verwandelt hat. Was seit der Wikingerzeit auf den Lofoten mit Dorsch funktioniert, muss ein überteuertes Elektroauto auch mit einer Braunschweiger Seniorin hinbekommen. Es lebe der Fortschritt.